Geduld, Gerechtigkeit, Großzügigkeit

Der Betteljunge

 

Es war einmal ein alter König, der geduldig und großzügig und gerecht war, und nichts als Gutes für sein großes Reich wollte. Als er spürte, dass sein Ende gekommen war, verkündete er seinen Untertanen, dass der Mann, dem es gelingen würde, den verzauberten Diamanten des Riesen zu stehlen, seine Tochter heiraten und der nächste König werden würde. Viele Ritter und Prinzen anderer Königreiche zogen aus, um die Aufgabe zu erfüllen, doch als die Jahre vergingen, der König längst tot, die Prinzessin uralt und das Reich zerfallen war, geriet der letzte Wunsch des weisen Mannes in Vergessenheit.

 

Sieben Jahrzehnte später gelangte der junge Sohn eines Bettlers an den Hof, und während er die Ruinen des Schlosses durchquerte, begegnete ihm eine alte Jungfer, die ihn aus geduldigen, großzügigen und gerechten Augen ansah. „Bettlersohn“, sprach sie, „Was führt dich in diese Gemäuer? Bist du gekommen, um des alten Mannes Wunsch zu erfüllen?“„Greisin, erzähl mir, was hier geschah“, verlangte der Junge zu wissen, denn er dachte sich, dass die alte Frau eine mächtige Zauberin war, und jene wollte er durch Ignoranz nicht verärgern. Die Alte erzählte und erzählte und als drei Tage und drei Nächte vergangen waren, kannte der Bettlersohn die ganze Geschichte und machte sich bereit, den Diamanten zu holen und dem verfallenen Königreich ein neuer und guter König zu werden. Doch bevor er seinen Stiefel auf den Pfad zum Berg setzen konnte, rief ihm das Mütterchen hinterher: „Halte nach dem Blinden Ausschau“ und verschwand, nachdem sie ihm einen Beutel voll mit sieben Goldmünzen gegeben hatte, in der maroden Burg. Der Junge merkte sich die Worte gut, und als er seine Reise bestritten und den Berg vor sich aufragen sah, rief er: „Lieber Blinder, komm hervor. Die alte Jungfer aus dem zerfallenen Königreich schickt mich!“ Zunächst geschah nichts. Als der Junge die Hoffnung fast aufgegeben hatte und dem Berg den Rücken zukehren wollte, bewegte sich etwas in der Erde und plötzlich lag ein grauer Maulwurf vor den Füßen des Jungen. Aus kecken Augen blickte der zu ihm hoch und sagte mit seiner rasselnden Stimme:

 

„Sieben Berge,

sieben Zwerge,

brauchst für jeden etwas Gold. Verlier den Wein,

stiehl den Stein,

dann ist die güldne Krone dein.“

 

Der Junge blinzelte, und als er die Augen wieder öffnete, lag vor ihm statt eines Tieres ein goldener Kelch. Rasch nahm er ihn an sich und sah dann, dass der Blinde ihm einen Tunnel gegraben hatte. Den Kelch verstaute er sicher in seinem Beutel, ließ sich auf alle Viere fallen und krabbelte den Weg durch den Tunnel entlang. Nach nicht allzu langer Zeit traf er auf den ersten Zwerg mit roter Haube, der den Eingang zum zweiten Berg bewachte. „Zutritt verweigert“, gab die Rothaube von sich, als der Junge an ihr vorbeikriechen wollte, und streckte verlangend die Hand aus. „Doch wenn du Gold hast, Junge, dann darfst du passieren.“

Unter dem gierigen Blick des Zwergs griff der Betteljunge in seinen Beutel und fühlte das kalte Gold des Bechers und der geschenkten Münzen an seiner Hand. Auch wenn ich nur sieben Münzen besitze, so kann ich wohl eine entbehren, dachte er sich und kramte den ersten goldenen Taler hervor. Mit einem Satz war der Zwerg bei ihm und schnappte sich die Münze, nur um sich im nächsten Moment zu verbeugen und den Weg freizumachen. „Passiere, Junge“, sprach er und der Junge kroch weiter. Alsbald traf er auf den zweiten Zwerg, der den Zugang zum dritten Berg bewachte. Eine orangene Haube schmückte sein Haupt, die Gier zierte seine Augen. „Wenn du Gold hast, Junge, dann darfst du passieren“, sprach er wie schon sein Vorgänger und abermals dachte der Betteljunge, dass er ja immer noch genügend Taler hätte und zog eine schimmernde Münze aus dem Beutel. „Passiere, Junge“,  sprach der Zwerg und war verschwunden. So ging es stetig weiter: Der Bettlersohn hatte immer einen Taler zur Hand und der Weinkelch blieb sicher verwahrt.

 

Als er am letzten Zwerg vorbei und sein Beutel nun beachtlich leichter war, betrat er den achten Berg, wo ihm das Gelächter des Riesen längst ins Ohr dröhnte. Und als er das Ungetüm sah, wurde ihm ganz wirr im Kopf, denn nie hatte er jemanden gesehen, der so dreckig, so groß, so böse war. Kurz bekam er es mit der Angst zu tun, doch dann erinnerte er sich an die Worte des Maulwurfs und zog den Becher hervor, der nun bis zum Rand mit dem herrlichsten Wein gefüllt war. Mit einem flauen Gefühl im Magen stellte der Junge den Kelch auf dem Boden ab und ging weiter seines Weges, immer tiefer in die Höhle des Riesen rein. Als er so nah war, dass er den Riesen riechen konnte, versteckte er sich hinter einem großen Fels und verharrte dort. Er musste ganze drei Tage und drei Nächte warten, bis der Riese die feine Duftnote des Weines vernahm und sich von seinem großen, stabilen Riesenbett erhob. Mit schweren Schritten machte er sich auf und folgte dem Duft der tiefroten Süße. Der Schatten des Ungeheuers war nicht mehr ganz an der felsigen Wand des Berges zu sehen, da richtete der Junge sich aus seinem Versteck auf und schlich mit winzigen Schritten und einem Auge auf den Ausgang gerichtet zum Bett hin. Eine Bettdecke, so kratzig und wirr wie das Fell des ungepflegtesten Schafes, lag auf der harten Matratze und unter ihr sah der Junge etwas schimmern. Mit Mühe hob er, sobald er das erste ferne grauenvolle Schnarchen des Riesen vernahm, die stinkende Decke an und brachte den gewaltigen Diamanten zum Vorschein. So groß wie das größte Pferd war er und mindestens so schwer. Wo Sekunden zuvor noch Freude und Triumph gewesen waren, schmückten nun Verzweiflung und Entsetzen das Gesicht des Jungen. Der Stein, dachte er sich, war viel zu groß! Niemals würde er ihn durch die Berge und durch die Felder und durch die Wälder bis hin zum alten Königreich schaffen können, bevor der Riese aus seinem Schlummer erwachte! Den Jungen verließ der Mut und niedergeschlagen ließ er sich neben das Holzgestell des Riesenbettes fallen. Er wollte die Augen schließen, da tauchte plötzlich der erste Zwerg mit der roten Haube vor ihm auf und sprach: „Verzage nicht, meine Brüder und ich werden dir helfen, denn du schenktest uns in deiner Großzügigkeit deine letzten Taler statt sie für dich zu behalten.“ Binnen weniger Sekunden waren alle Zwerge vor dem Jungen versammelt und trugen den Diamanten mit erstaunlichen Kräften durch den achten Berg, durch den siebten Berg, durch den sechsten Berg und immer weiter, bis die Gruppe schließlich vor den zerstörten Mauern des Königreiches ankam. Dort erblickte die alte Jungfer den Bettlersohn und die sieben Zwerge, die allesamt den Diamanten trugen. Von Begeisterung ergriffen rief sie alle Menschen und Tiere zusammen, die das Königreich einst bewohnten und ließ den Betteljungen in die Mitte der Menge bringen. „Seht!“, rief sie und als sie den verzauberten Diamanten berührte, wurde ihr graues Haar zu einem strahlenden Blond, ihre Haut jung und weich und ihre dunkle Bauernzunft zu einem prächtigen Prinzessinnenkleid. „Als Betteljunge zog er aus und als der neue König kehrt er zurück“, sprach sie und ergriff die Hand des Jungen, der von der Schönheit der Prinzessin so verzaubert war, dass er nicht merkte, wie auch der Rest des Königreiches sich so veränderte, dass es aussah wie vor dem Tod des letzten Königs. Die Menge jubelte und begrüßte voller Freude den jungen König, der, so sagt man, noch viel geduldiger und gerechter und großzügiger regierte als sein Vorgänger und das Königreich in eine Zeit des Wohlstands und des Friedens führte.

 

Lea R.